Die Hamas im Gazastreifen erlässt Gefangenen ihre Strafen, wenn sie den Koran rezitieren können
Wer im Zentralgefängnis von Gaza Teile des Korans auswendig rezitiert, erhält Hafterleichterung. Seit der Einführung der Regel vor zwei Monaten gleicht das Gefängnis einer Koranschule.
«Im Namen des grossen und barmherzigen Gottes», murmelt der Gefängnisdirektor Ali Ehmeid, bevor er niederkniet und seinen Kopf Richtung Mekka beugt. Er lässt sich Zeit beim Beten, schliesslich hat er jetzt eine besondere Vorbildfunktion. Mit der Übernahme des Gazastreifens durch die Hamas vor zwei Monaten ist der ehemalige Polizeichef für Drogenfahndung nicht nur auf den Direktorenstuhl des Zentralgefängnisses in Gaza gehievt worden, sondern hat auf Anweisung der Hamas-Führung eine neue Regel im Gefängnisalltag eingeführt: Wer Teile des dreissigteiligen Korans auswendig rezitieren kann, erhält Hafterleichterung. Einen Monat Freiheit für einen Teil von fünfzehn bis zwanzig zu rezitierenden Seiten, ein Jahr Erlass für fünf Teile.
Angebot für Vergewaltiger
«Kein Mensch ist von Grund auf schlecht, aber manchmal treibt ihn das Umfeld in die Kriminalität. Die Koranlektüre soll aus den Häftlingen neue, gute Menschen machen», begründet Ehmeid die Methode, die bereits in den Vereinigten Arabischen Emiraten und in Saudiarabien angewendet wird. Wie ein Fieber hat sich die Lektüre der heiligen Schriften in den Zellen verbreitet. Glaubt man Ehmeid, dann haben über 100 der 210 Häftlinge mit dem Auswendiglernen von Versen und Suren begonnen.
Hinter eisernen Türen liegt der reingefegte Gefängnishof, auf dem zwei blau gewandete Männer Basketball spielen. Die Stimmung ist ausgelassen, wie in einem Ferienlager. Einige Männer haben sich in Reih und Glied an einer Wand aufgestellt, um sich für die Dokumentation ablichten zu lassen. Im privaten Gespräch und ohne Überwachung loben die Häftlinge die neue Hamas-Administration, die nicht nur eine Bibliothek eingerichtet habe, sondern den Gefangenen auch tägliche Besuche ihrer Familienangehörigen ermögliche.
Im zweiten Stock stehen viele der Zellentüren weit offen. Gebetsfetzen mischen sich mit Gejohle und Gelächter. In einer Sechser-Zelle, in der sogar ein Kühlschrank steht, haben sich Häftlinge auf ihren Kajütenbetten versammelt und essen Kuchen und Feigen.
Der 27-jährige Mazen aus dem Flüchtlingslager Jabalia jedoch hat den Kopf tief über seinen Koran gebeugt. Der Vergewaltigung seiner Schwägerin angeklagt, ist er seit über zwei Jahren hinter Gittern. Nur einmal, vor zwei Monaten, als die Fatah-Administration bei der Hamas-Übernahme in Panik alle Türen geöffnet hatte, bevor die Wärter selbst davonrannten, entwich er gemeinsam mit allen anderen Häftlingen in die Freiheit. Doch seine Familie händigte ihn den Exekutivkräften der Hamas aus, damit er die restlichen 13 Monate absitze. Jetzt hat ihm der Gefängnisdirektor ein Spezialangebot gemacht: Kann er drei Koranteile auswendig, wird ihm ein Gefängnisjahr geschenkt.
Nicht alle im Gefängnis begrüssen die neue Regelung. Ein ausgezehrter Mann mit struppigem, kurzem Haar, der vor einem Monat wegen Drogengeschäften inhaftiert wurde, beklagt sich: «Diese neue Regel hat zu Streitereien zwischen den Häftlingen geführt. Einige können weder lesen noch schreiben und fühlen sich ungerecht behandelt.» Er selbst könne zwar lesen, aber er sei nicht fähig, Teile des Korans auswendig zu lernen. Zudem sei das heilige Buch eine Beziehung zwischen ihm und Gott, deshalb werde er es nicht dazu missbrauchen, seine Haftstrafe zu verkürzen. Noch weiss er nicht, wie lange er sitzen muss, aber für ihn hat sich mit der Hamas-Übernahme vieles zum Schlechten gewendet. Er stammt aus der Familie Helles, die vor der Hamas-Übernahme Teile der Stadt mit beherrschte und zur Anarchie beitrug. Wurde früher ein Familienmitglied eingesperrt, dann stürmte diese in einer Befreiungsaktion kurzum mit Waffengewalt das Gefängnis. «Jetzt hilft es mir nichts mehr, Teil einer starken Familie zu sein. Die Hamas hat uns viele Waffen abgenommen», sagt er. Nun hoffe er, dass seine Familie nicht eine verlustreiche Befreiung versuche.
Zu Unrecht inhaftiert
Während die grossen Familien zu den Verlierern der Hamas-Übernahme gehören, freuen sich andere. Fayez Abu Tabak näht im Atelier des Gefängnisses Militärhosen für die Exekutivkräfte der Hamas. Vor fünf Jahren hat ihn der Fatah-kontrollierte Geheimdienst der Kollaboration mit den Israeli und der Beihilfe zur Tötung eines Fatah-Mannes in Hebron angeklagt und verhaftet. Abu Tabak beharrte ohne Erfolg und Anhörung auf seiner Unschuld. Jetzt hat ein von der Hamas eingesetztes Spezialkomitee, bestehend aus Anwälten und Gelehrten, Abu Tabaks Verfahren und Dutzende anderer Fälle erneut untersucht. Das Komitee bestätigte, was Abu Tabak seit Jahren sagte: Der vermeintlich getötete Mann aus Hebron lebt, und es gibt keinen Anlass, Abu Tabak einzusperren. So hofft er, in den nächsten Tagen freizukommen. Für ihn ist das aber eine zu kurze Zeit, um noch mit dem Auswendiglernen von Koransuren zu beginnen.